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Heilen Sie agile Organisationen!

Viele Unternehmen, die nach agilen Prinzipien arbeiten, erleben eine innere Zerrissenheit: Während die neu erlangte Beweglichkeit in der Kooperation vielen zuspricht, wird es zunehmend schwierig, sich zu orientieren und an zuverlässige Informationen zu kommen. Führende können die notwendige Klarheit und Sicherheit schaffen, indem sie drei zentrale Annahmen prüfen und überarbeiten.

Agilität steht für eine neue Zusammenarbeit. Sie erleichtert nicht nur Prozesse oder räumt komplizierte Rahmenbedingungen aus dem Weg, sondern sie bietet insbesondere Mitarbeitenden nie dagewesene Gestaltungsfreiheiten. Dazu sind drei wesentliche Elemente nötig: Klarheit, Sicherheit und Eigenverantwortung. Sind sie nicht oder nicht ausreichend vorhanden, sollten Sie dafür sorgen.

Doch was beschränkt diese Elemente? Es sind meistens Dichotomien, die sich für die Mitarbeitenden aus der Umstellung auf agile Prinzipien ergeben. Ich treffe regelmässig dieselben Vertreter:

• Beweglichkeit vs. Zuverlässigkeit • Freiheit vs. Disziplin • Individuum vs. Unternehmen • Selbstführung vs. Kollektivleistung • Dynamik vs. Stabilität

Diese und weitere Dichotomien steigern das Bedürfnis der Mitarbeitenden nach (materieller) Klarheit und (psychologischer) Sicherheit, um heute und morgen eigenverantwortlich zu handeln. Solche Dichotomien sind nichts Neues und ein alltägliches Phänomen. Nur macht es der Kontext der Agilität nicht leichter. Führende können Mitarbeitende die notwendige Unterstützung geben, wenn sie drei wesentliche Annahmen prüfen, die das Funktionieren agiler Prinzipien sicherstellen. Werden sie (noch) nicht erfüllt, können Mitarbeitende diese hemmenden Dichotomien kaum auflösen.

Annahme 1: Mitarbeitende handeln eigenverantwortlich.

Eigenverantwortung (oder in Anlehnung an den englischen Begriff «Self-Efficacy»: Selbstwirksamkeit) lässt sich nicht nur auf reine Motivation beschränken (die Positive Psychologie spricht hier gerne von Will-power), sondern setzt auch eine Richtung voraus (die sogenannte Way-Power). Gemeinsam erzeugen diese beiden Kräfte Hoffnung und Zuversicht bezüglich anstehender Aufgaben oder Herausforderungen. Diese lassen sich jedoch nur dann erzeugen, wenn ausreichend (materielle, prozessuale) Klarheit und (psychologische, soziale) Sicherheit bestehen – und verantwortliche Führende/Rollen sollten diese liefern.

Unglücklicherweise fehlt ihnen in einem (neuen) agilen Umfeld oft selbst die notwendige Übersicht. Auch ihnen fehlt es also an Klarheit und Sicherheit. Damit ist ihre eigene Eigenverantwortung eingeschränkt, gerade die beiden wichtigen Bausteine zu liefern: Ein unglücklicher Kreislauf.

Ein möglicher Ausweg: Obwohl die beiden Bausteine gleich wichtig sind, können sie einem den Vorzug geben – je nach Organisation oder Kultur. Während es in einem Unternehmen beispielsweise wichtig ist, Prozesse möglichst effizient zu gestalten (also Klarheit zu haben), steht in einem anderen Unternehmen eher die zwischenmenschliche Zusammenarbeit im Zentrum (also die soziale Sicherheit). Das erlaubt Ihnen, die nötigen Handlungsschwerpunkte zu definieren und gemeinsam mit Ihrer Führungscrew umzusetzen. Eine Einschränkung gibt es trotzdem: Ob die Mitarbeitenden auch tatsächlich eigenverantwortlich handeln wollen und ob sie verstehen, was Sie von ihnen erwarten, steht auf einem anderen Blatt.

Annahme 2: Teams organisieren sich selbst.

In nach agilen Kriterien aufgestellten Unternehmen stelle ich eher kurzfristige Perspektiven fest. Das Bedürfnis, sich rasch und häufig auszutauschen, Pläne locker zu machen und die Kooperation auf aktuelle Bedürfnisse auszurichten, mag zwar die Reaktionsbereitschaft (Beweglichkeit) eines Systems erhöhen. Nur frage ich mich, ob nicht auch dieses Phänomen auf fehlende Klarheit und Sicherheit zurückzuführen ist. Ein Indiz dafür ist aus meiner Sicht der dominierende Fokus auf Arbeit IM statt AM System. In den schier unendlichen, operativen Absprachemeetings (und der daraus resultierenden Unverfügbarkeit von Mitarbeitenden) bestimmen aktuelle Probleme den Inhalt – selbst in Meetings, die einer weitsichtigeren Planung vorgesehen wären. Hier fehlt es eindeutig an (psychologischer) Sicherheit, konsequent Themen zu setzen, die nicht bloss Pain Points reduzieren. Diese Kurzfristigkeit mach konfus. Und sie fördert die Nabelschau – also den Fokus auf die eigenen, teamspezifischen Bedürfnisse. Doch der Kern einer wirksamen Kooperation im Unternehmen liegt nicht bloss im Team selbst (inter-team Kooperation), sondern insbesondere zwischen den Teams (intra-team Kooperation). Die Frage, wie man am besten mit anderen Teams zusammenarbeitet, bleibt oft unbeantwortet. Die Nabelschau beschränkt das Interesse an den Leistungen anderer Teams oder am Erfahrungsaustausch mit denselben. Eine umfassende Selbstorganisation entsteht deswegen nur halbwegs.

Ein möglicher Ausweg: Lassen Sie in allen Teams einen Katalog erstellen, beispielsweise über Verantwortlichkeiten, Lieferobjekte, über die interne Teamsteuerung oder über die drängendsten Fragen und Probleme. Stellen Sie eine Gesamtübersicht zusammen, teilen Sie diese mit allen Teams, die Sie danach zu einem kurzen Workshop einladen. Wählen Sie ein Setup, der die notwendigen Verbindungen zwischen Mitarbeitenden unterschiedlicher Teams herstellet, sodass Erfahrungen getauscht, Gemeinsamkeiten erkannt oder gar Probleme gelöst werden können. Das ist wiederum eine Investition in Klarheit und Sicherheit und damit in Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation.

Annahme 3: Purpose reicht als Wegweiser.

Selbst wenn alle nach Purpose schreien und sich für kompetent halten, diesen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu kommentieren, sollen Sie als Führungskraft diesen Purpose sehr genau auf stufengerechte Anknüpfungspunkte untersuchen. Selbst wenn es den Anschein macht, dass mit dem Purpose die Ära der superkomplizierten Strategien beendet worden sei, mache ich andere Erfahrungen. Mitarbeitende brauchen Übersetzungshilfen, Steigbügel Brücken in den Alltag. Denn, egal wie Sie Ihre Leitsterne bezeichnen und mit Inhalten füllen, müssen sie verstanden werden.

Insofern hat sich für Führende aus meiner Sicht wenig geändert. Wie ich schon in meinem Buch (Kapitel 1: «Tell – Wie Sie Mitarbeitende mit Ihrer Absicht bewegen») beschreibe, sind Geschichten sehr geeignet, Inhalte adressatengerecht zu transportieren. Dazu können Sie auf unterschiedliche Erzählstrukturen zurückgreifen. Was sich hingegen verändert hat, ist die verfügbare Zeitdauer, bis Sie verstanden werden. Die ist signifikant kürzer geworden. Also müssen Sie noch einfacher werden, noch häufiger darüber sprechen und gemeinsam mit Mitarbeitenden deren Perspektiven aufzeichnen. Finden Sie noch die Zeit dazu?

Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Sicht auf Purpose. Viele (gerade jüngere Mitarbeitende) meinen, dass Purpose einfach existiert und sich nicht verändert. Selten erkennen sie, dass es gerade ihr Zutun ist, dass den Purpose mitgetragen und in der Organisation verankert wird. Insofern helfen die eingeschränkte Eigenverantwortung sowie die halbwegs greifende Selbstorganisation wenig, als dass der Purpose eigenständig als Wegweiser wirken könnte.

Ein möglicher Ausweg: Machen Sie sich zum Wegweiser – und zwar mit klaren Ansagen! Sagen Sie, was Sie weshalb erwarten und erreichen wollen und wie damit ein übergeordnetes Ziel erreicht werden kann. Machen Sie klar, was Sie auf dem Weg dorthin tolerieren und was nicht. Stiften Sie Klarheit und vermittelnd Sie Sicherheit. Auch wenn Sie selbst nicht alles wissen oder voraussehen können. Ein Entscheid ist immer besser als keiner (auch wenn keiner natürlich auch einer ist – zumindest nach Sartre). Damit wissen alle, woran sie sind und sie können eine eigene Stellung beziehen: Entweder Ihre Ansage mittragen oder Argumente einbringen, wie man beispielsweise eleganter zum Ziel kommen könnte. So erzeugen Sie eine purpose-ähnliche Wirkung: Integration & Engagement!

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